Weniger Staat - mehr Gesellschaft
Freiheit - Ökologie - Anarchismus
von Rolf Cantzen
Frankfurt: Trotzdem bei Alibri, 1995. 264 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3922209812.
Beschreibung:
Kritik am Staat und am staatlichen Handeln wird heute von verschiedenen Seiten erhoben. In dieser Auseinandersetzung kommt einer neuen, kritischen Aneignung des Anarchismus eine besondere Bedeutung zu. Es zeigen sich Berührungspunkte mit den Postulaten einer basisdemokratischen, dezentral-selbstorganisierten, solidarischen und ökologischen Gesellschaft.
Weshalb Neuaneignung anarchistischer Theorien – ein Vorgriff
Auftauchende Forderungen nach weniger Staat zielen vor allem darauf ab, dass sich der Staat aus bestimmten Bereichen zurückziehen soll. In der Wirtschaftspolitik ist die Forderung nach einer Reduzierung staatlicher Eingriffe verbunden mit der Vorstellung, dass der Markt und der freie Wettbewerb gestärkt werden müssten. Auch die Staatskritik im Bereich der Sozialpolitik richtet sich auf eine Reprivatisierung. Die Perspektive einer Vergesellschaftung scheint auf Seiten der Linken vollständig vergessen, obwohl im Demokratischen Sozialismus mit Vergesellschaftung durchaus eine umfassende Demokratisierung und sogar eine partielle Selbstverwaltung gemeint wurde. Doch der traditionelle Etatismus der etablierten "Linken" verhinderte eine basisdemokratische und auf Selbstverwaltung abzielende Vergesellschaftung und hatte eine Politik der Verstaatlichung der Gesellschaft zur Folge.
Für das Projekt einer Vergesellschaftung, d.h. für weniger Staat und mehr Gesellschaft, mangelte es in theoretischer Hinsicht bislang an folgendem:
- an einer radikalen Staatskritik; d.h. für die etablierte Linke, an einer Infragestellung ihrer eigenen autoritär-etatistischen Tradition
- an einem Gesellschaftsbegriff, der sich von den ideologischen Verzerrungen liberalistisch-bürgerlicher Theorie löst
- an der Perspektive einer auf dezentraler Selbstorganisation und auf Selbstverwaltung basierenden kooperativern und sozialen Gesellschaft
- an einer über die Staatskritik hinausgehenden radikalen Herrschaftskritik, die neben dem politisch-staatlichen Bereich in gleicher Weise auch den ökonomischen und sozialen Bereich einbezieht.
Was auf der Basis liberalen, konservativen und staatssozialistischen Denkens nicht gelingen kann, nämlich die Forderungen nach weniger Staat und mehr Gesellschaft in Deckung zu bringen, ermöglicht ein kritischer Rückgriff auf anarchistische Theorien. (...)
Für die Relevanz und Aktualität einer kritischen Wiederaneignung anarchistischer Theorien spricht,
- dass die traditionellen liberalen und staatssozialistischen Erklärungsmodelle gesellschaftlicher Prozesse ebenso an Bedeutung verlieren wie deren gesellschaftliche Zielvorstellungen,
- dass die in allen politischen Lagern erhobene Forderung nach weniger Staat im Rückgriff auf den Anarchismus sinnvoller mit dem Ideal der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung zusammenzudenken ist als auf der Basis liberaler, staatsozialistischer und konservativer Politiktheorien,
- dass im Anarchismus nicht ein Weg zum Ziel der freien Gesellschaft verabsolutiert wurde und dass Anarchisten nicht nur eine gesellschaftliche Organisationsform als die "wahre" anarchistische vertreten. Vielmehr erscheint ein Nebeneinander verschiedener herrschaftsfreier Strukturen wahrscheinlich. Hierarchisch-zentralistische Gesellschaftsstrukturen werden zugunsten von komplementären und vielfältigen Strukturen verworfen. Dieser anarchistische Pluralismus lässt im Hinblick auf eine gesellschaftliche Umgestaltung den Einzelnen breiten Entfaltungsspielraum und ermöglicht es, die verbleibenden Freiräume individuell und flexibel zu nutzen, auf verschiedenen Ebenen zu wirken und nicht-hierarchische Strukturen partiell zu realisieren und auszudehnen.
Vorwort [9]
I. Einleitung [13]
1. Weshalb Neuaneignung anarchistischer Theorien - Ein Vorgriff [14]
2. Anthropologische Prämissen von Staatsauffassungen [16]
a) Die Tradition des Liberalismus [17]
b) Die Tradition des Staatssozialismus [18]
c) Die Tradition des Anarchismus [20]
3. Anarchismus - Versuch einer begrifflichen Eingrenzung [24]
a) Anarchie - die unangemessene Freiheit [25]
b) Anarchismus - ein Liberalismus, "der über den Strang gehauen hat" [26]
c) Das Anarchismusverständnis von Anarchisten [28]
d) Anarchismus - kein "-ismus" [31]
e) Libertäre und Anarchisten [32]
II. Anarchismus - eine verschüttete Tradition und deren Wiederaneignung [35]
1. Die lädierte Fortschrittsgewißheit und der (un-)zeitgemäße Anarchismus [36]
a) Die hierarchische Ordnung und die (un-)zeitgemäßen anarchistischen Ordnungsvorsteillungen [38]
b) Der eindimensionale Fortschrittsbegriff und die (un-)zeitgemäße anarchistische Utopie [42]
c) Die "Herrschaft der Denksysteme" und die (un-)zeitgemäße Skepsis im Anarchismus [45]
2. Auf dem Müllhaufen der Geschichte [50]
a) Marx kontra Bakunin [52]
b) Marxismus kontra Anarchismus [54]
c) Diktatur des Proletariats oder Staatszerstörung [56]
d) Die bolschewistische Konterrevolution [58]
3) Das Ideal der gewaltlosen Ordnung und anarchistische Gewalt [61]
a) Anarchismus und Terrorismus [62]
b) Gewaltsame Staatsordnung - gewaltlose Gesellschaftsordnung [64]
c) Gewaltlosigkeit und Widerstand gegen Gewalt [6S]
d) Propaganda der Tat [66]
e) Albert Camus: "Die zartfühlenden Mörder" [69]
f) Der Zweck und die Mittel [70]
III. Gesellschaftsorganisatorische Alternativen im Anarchismus [75]
1. Auflösung des Zentralstaates durch Föderalismus - Proudhon [76]
2. Staat und "geschichtete Gesellschaft" - Landauer [79]
3. Rätevertretungen und Föderalismus - Bakunin [83]
4. Kommunalismus und Föderalismus - Kropotkin [85]
5. Zur Kritik von Anarchisten an der parlamentarischen Demokratie [87]
6. Libertäre Perspektiven aus dem Anarchismus: Strukturierte Gesellschaft [90]
a) Entstaatlichung der Gesellschaft [90]
b) Vergesellschaftung des Staates [92]
IV. Ökonomische Alternativen im Anarchismus [101]
1. Produktionsgenossenschaft und ökonomische Föderation - Proudhon [101]
2. Sozialismus-Verbindung des Getrennten - Landauer [107]
3. Rätevertretungen und Organisation der Weltindustrie - Bakunin [110]
4. Anarchismus und Syndikalismus [114]
5. Vollgenossenschaften und amorphe Verbindungen - Kropotkin 119]
6. Zur Bedeutung der Arbeit [123]
7. Libertäre Perspektiven aus dem Anarchismus: Gesellschaftssozialismus [125]
a) "Austritt aus dem Kapitalismus" [126]
b) Vergesellschaftung des Kapitalismus [130]
V. Soziale Alternativen im Anarchismus [139]
1. Gemeinschaftlichkeit [141]
2. Individualistische Selbstbehauptung [144]
3. Frauenemanzipation im Anarchismus [146]
4. Die Emanzipation des Kindes [151]
5. Familie - "letzter natürlicher Verbund" oder "Keimzelle der Autorität" [161]
6. Libertäre Perspektiven aus dem Anarchismus: Individualistische Selbstbehauptung und konkrete Gemeinschaftlichkeit [165]
a) Entstaatlichung des Sozialen [166]
b) Vergesellschaftung des Sozialen [168]
VI. Ökologie und Anarchismus [175]
1. Drei Varianten, wie Anarchismus und Ökologie nicht zu verbinden sind [176]
a) Unzulässige Verallgemeinerung von Wertentscheidungen [177]
b) Der "naturalistische Fehlschluß" [179]
c) Vorstellungen von einer Natur "an sich" [180]
2. Ökologie - Begriff, Klischee, ideologische Verzerrungen [183]
3. Mentalität und ökologische Sensibilität [185]
a) Erkenntnistheoretische Skepsis und das Mensch-Natur-Verhältnis - Landauer [186]
b) Die "Natürlichkeit" und Sozialität des Menschen - Kropotkin [188]
c) Die Verbundenheit mit dem "großen Ganzen" - Landauer und Kropotkin [192]
4. Zwischen Anthropozentrismus und "Naturalismus" [194]
a) Anpassung des Menschen an die Natur oder Anpassung der Natur [194]
b) Unberührte und sozial konstituierte Natur [196]
c) Das Opfer der Vernunft [199]
d) Die Grenzen der Argumentation [200]
5. Technikkritik und Industrialismuskritik im Anarchismus [201]
a) Landauer: Marxismuskritik als Industrialismuskritik [202]
b) Technischer Fortschritt und sozialer Verfall [205]
c) Eine libertäre Technik [208]
6. Wie Anarchismus und Ökologie zu verbinden sind [211]
a) Eine anthropozentrisch begründete soziale Ökologie [211]
b) Anarchie und Ökologie [214]
VII. Anarchistische Theorien in ihrer Bedeutung für hochkomplexe Gesellschaften [221]
1. Anarchistische Kritik - eine Voraussetzung für libertäre Perspektiven [223]
a) Perspektivwechsel durch die Kritik an der Anthropologie der "natürlichen Konkurrenz" [223]
b) Perspektivwechsel durch die Kritik an "ökonomistischen" Fortschrittsmodellen [225]
c) Perspektivwechsel durch die Kritik der Annahme einer vollständigen Manipulierbarkeit des Menschen [227]
2. Formen des Widerstands [229]
3. Libertäre Transformationskonzepte aus anarchistischen Theorien [231]
a) Vorbereitung der neuen Gesellschaft in der alten [232]
b) "... aus dem Kapitalismus austreten..." [233]
c) "...den Staat in die Gesellschaft absorbieren..." [236]
4. Gegenwärtige libertäre Tendenzen und libertäre Perspektiven 238]
ANHANG [243]
Kurzbiographien einiger Theoretiker des Anarchismus [245]
Literatur [247]
Personenregister [259]
Sachregister [261]