Anarchistische Fragmente
Memoiren eines amerikanischen Anarchosyndikalisten
Von Sam Dolgoff
Lich: Verlag Edition AV, 2011. Broschur, 237 Seiten. ISBN: ISBN 978-3868410501.
Beschreibung:
"Ich habe diese Memoiren geschrieben, in der Hoffnung, dass meine Erinnerungen zumindest einen bescheidenen Beitrag zur Geschichte der anarchistischen Bewegung Amerikas leisten. Dies ist keine systematische Arbeit. Ich habe meine Erfahrungen und Eindrücke so aufgeschrieben, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber ich hoffe, dass die Leserschaft kleinere Fehler einkalkuliert, die zu erwarten sind, wenn jemand fast 83 Jahre alt ist und die „Suche nach der verlorenen Zeit“ nicht immer zu einem absolut korrekten Ergebnis führt. Es war zuerst geplant, dass diese Memoiren ins Detail gehen sollten. Aber das Alter, Gedächtnisschwäche, fehlende Unterlagen und die Kosten ließen ein so umfangreiches Projekt wenig ratsam, ja so gut wie unmöglich erscheinen. Ich habe mich daher auf das Zusammentragen sozusagen Skizzieren der wichtigsten Ereignisse beschränkt."
Der disziplinierte Anarchist
Auch wenn Dolgoff, der das Handwerk des Malers gelernt hatte, alles andere als ein begnadeter Schriftsteller ist, sind seine Memoiren doch aufschlussreich. Dolgoff ist ein recht typischer Vertreter des amerikanischen Anarchismus, dessen Anfänge in den revolutionären Kämpfen des von Pogromen erschütterten Zarenreichs liegen. Auch Dolgoff, der eigentlich Dolgopolski hieß und im Jahr 1902 geboren wurde, entstammte wie so viele seiner späteren Genossen dem Chagallschen Milieu eines Stetls. Er wuchs im heutigen Weißrussland auf und gelangte mit der großen russisch-jüdischen Einwanderungswelle Anfang des 20. Jahrhunderts an die amerikanische Ostküste, genauer: an die Lower Eastside in New York. (...)
Sein Vater war vor dem langjährigen Militärdienst geflohen, den der Zar den Juden seines Reiches auferlegt hatte. Der Bruder des Vaters, ein kommunistischer Schriftsteller, verschwand in den dreißiger Jahren in einem Lager des Stalinschen Archipels.
Sam Dolgoff war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der Industrial Workers of the World. In den zwanziger Jahren zog er als Redner von Stadt zu Stadt und sprach an Straßenecken und in Hörsälen, agitierte für die Arbeiteraktivisten Mooney und Billings, für Sacco und Vanzetti und gegen reformistischen Sozialismus und autoritären Kommunismus. In Chicago schloss er sich 1925 der Gruppe »Free Society« an, der größten anarchistischen Fraktion der Stadt, und kam mit Grigori Maximow, einem Veteranen der Russischen Revolution, in Kontakt. In Chicago begegnete er auch Lucy Parsons, die Witwe des Haymarket-Märtyrers Albert Parsons, und Ben Reitman, dem Liebhaber von Emma Goldman. Er schrieb für alle maßgeblichen Organe der Bewegung wie Vanguard und verfasste Bücher über Bakunin, über die Spanische Republik und über die Anarchisten auf Kuba. Er gründete eigene Zeitungen und lebte mit seiner Frau Esther und seinen beiden Söhnen lange Zeit in einer anarchistischen Kolonie, wobei sich sein Zorn bald gegen die sogenannten »Kolonie-Hoboes« richtete, die, wie der bodenständige Dolgoff meinte, lieber nehmen als geben würden und das anarchistische Gemeinwesen zugrunde richteten. (...) Der Arbeiter mit Frau, Kindern und Arbeitsplatz klagt über Spalter, Querulanten, Provokateure und Verrückte. Ihm war es immer darum gegangen, seinem Leben und dem Leben anderer Menschen einen Sinn zu geben und diszipliniert für den Anarchismus zu arbeiten, der ihm nicht nur Synonym für die erstrebte solidarische Gesellschaft, sondern auch eine Art Verhaltenskodex war, der in etwa darauf hinausläuft, dass man sich niemandem unterwirft, hilfsbereit und solidarisch ist.
Von »absoluter Integrität« sei sein Vater gewesen, schreibt einer der beiden Söhne im Vorwort des Buches und fügt hinzu: »Was meinen Vater zum Anarchisten machte, war sein Hass auf diejenigen Institutionen, die das Leiden anderer aufrechterhielten und von diesem profitierten, nämlich der Staat, das kapitalistische System und organisierte, etablierte Religion.« (...)
Sam Dolgoff und seine Frau Esther blieben bis zum Schluss Anarchisten. Nach dem Tod des Diktators Franco reisten die beiden nach Spanien, um sich mit anderen einstigen Aktiven oder Zeugen heroisch-aussichtsloser Kämpfe zu treffen. Noch im hohen Alter verfolgte und kommentierte der Unermüdliche die Streiks im Iran und die Geschehnisse und Kämpfe in Ghana. Während der Niederschrift seiner Memoiren starb Dolgoff im Oktober 1990 im Alter von 88 Jahren. So ist ein Teil der Erinnerungen Fragment geblieben, was ihren Wert als historisches Dokument nicht mindern kann.
Birgit Schmidt, in: Jungle World Nr. 40, 6. Oktober 2011