Genossenschaften
Geschichte, Aktualität und Renaissance
Von Gisela Notz
Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2021. 266 Seiten, Illustrationen. Kartoniert, ISBN 978-3896570697.
Beschreibung:
Genossenschaften waren in der Geschichte und sind auch heute noch ein wichtiger Faktor in der bundesdeutschen Wirtschaft. Dennoch ist die Kenntnis über Genossenschaften noch immer gering.
Auch ideologische und theoretische Reflexionen, wissenschaftliche Erklärungen und nicht zuletzt Erwartungen an genossenschaftliches Verhalten sind vielfältig. Viele Menschen in Deutschland stellen sich unter dem Begriff «Genossenschaften» lediglich Genossenschaftsbanken, bestenfalls Wohnungsbaugenossenschaften vor. Das zeigt sich auch in den vorliegenden Veröffentlichungen. Das ist schade, denn als Genossenschaft kann man Vieles gründen. Und Gründungen von Genossenschaften sind meist wirtschaftlich erfolgreicher als Einzelgründungen. Deshalb soll das vorliegende Buch einen möglichst umfassenden Überblick über die Genossenschaftsbewegungen in Geschichte und Gegenwart geben.
Ausgehend von der Notwendigkeit Alternativen zum kapitalistischen profitorientierten und Mit- und Umwelt zerstörenden Wirtschaften zu entwickeln, wird in diesem Buch die Geschichte der Genossenschaften aus der sozialistischen und der bürgerlichen Begründungsperspektive beleuchtet. Anschließend werden Aufstieg und Fall der Genossenschaften während verschiedener Epochen nachgezeichnet. Abschließend fragt die Autorin nach dem utopischen Gehalt der «neuen Genossenschaften», die heute vor allem im Wohnungsbau, als Energiegenossenschaften und Verbraucher-Erzeugergenossenschaften entstehen.
Einleitung [10]
1. Was sind Genossenschaften? [16]
1.1 Das Genossenschaftsgesetz [19]
1.2 Organe der Genossenschaften [21
1.3 Prüfungsverbande [23]
1.4 Genossenschaftliche Dachverbände [24]
1.5 Wie gründet man/frau eine eingetragene Genossenschaft eG? [27]
1.6 Grundprinzipien der Genossenschaften [29]
2. Kleine Genossenschaftsgeschichte [33]
2.1 Die redlichen Pioniere von Rochdale [34]
2.2 «Aus besitzlosen Arbeitern arbeitssame Besitzer formen». Victor Aimé Huber (1800-1869) [37]
2.3 «Der Geist der freien Genossenschaft ist der der freien Gesellschaft». Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883) [39]
2.4. «Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele... »Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888) [41]
2.5 «Der Arbeiter hat jetzt gleiches Interesse, daß die Ordnung nicht gestört wird.» Eduard Pfeiffer (1835-1921) [44]
2.6 «Nicht ruhen noch rasten darf, wer den Kapitalismus bekämpfen will! »Adolph von Elm (1857-1916) [45]
2.7 «Das Genossenschaftswesen verfocht sie leidenschaftlich». Eine Gründungsmutter der Genossenschaften: Helma Steinbach (1847-1918) [47]
2.8 Geschlechterverhaltnisse und Genossenschaften [49]
3. Positionen zum Genossenschaftswesen [55]
3.1 Frühsozialisten [55]
3.2 Sozialistische Genossenschaften [57]
3.3 Karl Marx und Friedrich Engels [59]
3.4 Rosa Luxemburg (1871-1919) [65]
3.5 August Bebel (1840-1913) [68]
3.6 Franz Oppenheimer (1864-1943) [69]
3.7 Eduard Bernstein (1850-1932) [71]
3.8 Gustav Landauer (1870-1919) [73]
4. Wie ging es weiter mit der Genossenschaftlichkeit? [77]
4.1 Genossenschaften als dritte Säule der Arbeiterbewegung [80]
4.2 Einflussnahme von Parteien und Kirchen auf die Genossenschaften {[82]
4.3 Produktivgenossenschaften [83]
4.4. Bank- und Kreditgenossenschaften [86]
4.5 Landwirtschaftliche Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften [91]
4.6 Handwerkergenossenschaften [95]
4.7 Einzelhandels- und Konsumgenossenschaften [96]
4.8. Wohnungs-, Bau- und Siedlungsgenossenschaften [105]
4.9 Kulturgenossenschaften [125]
5. Übernahme der Genossenschaften im Nazi-Faschismus [129]
6. Wiederaufbau der Genossenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg [134]
6.1 Bundesrepublik Deutschland [136]
6.2 Deutsche Demokratische Republik [144]
6.3 Wiederbelebung der Genossenschaften in der BRD ab den 1970er Jahren [149]
6.4 Neue Bedeutung der Genossenschaften nach der «Wiedervereinigung» [167]
7. Aktuelle Bedeutung von Genossenschaften in der BRD [176]
7.1 Aktuelle Entwicklungen der Genossenschaften [177]
7.2 Produktivgenossenschaften [193]
7.3 Energiegenossenschaften [193]
7.4 Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaften [197]
7.5 SchulgenossenschaftenBeispiel: FWR-Schule Wetzlar eG [199]
7.6 Sozialgenossenschaften [200]
7.7 Frauengenossenschaften [202]
7.8 Mediengenossenschaften [209]
7.9 Infrastrukturgenossenschaften [215]
8 Ein Blick über den nationalen Tellerrand [219]
8.1 Europa [220]
8.2 Außereuropäische Lânder [240]
9 Kritische Einschatzung der Genossenschaften [249]
9.1 Gibt es ein richtiges Leben im falschen? [249]
9.2 Fenster in eine andere Welt [251]
10 Perspektiven [254]
Anhang [258]
Genossenschaftsstiftungen, Archive, Museen und Institute [258]
Literaturverzeichnis auf der Website des Verlages
Wir haben keinen Anspruch auf eine bessere Welt – wir haben die Verantwortung, sie aktiv ins Werk zu setzen. Handlungsspielräume gibt es genug, Erfahrungsschätze auch. Nur wenn wir sie ausloten und wirklich beginnen, können wir Beispiele geben für ein friedliches, sozial- und naturverträgliches Leben frei assoziierter Individuen. Es geht um die Strahlkraft des Experiments und um den Aufbau sozialökonomischer Gegenstrukturen, die Partizipation und Solidarität an die Stelle von Konkurrenz und Herrschaft setzen.
Ein praktikables Modell können genossenschaftliche Zusammenschlüsse und ihre gemeinwirtschaftliche Vernetzung sein. Das ist die These von Gisela Notz (geb. 1942). Sie ist ausgewiesene Expertin für alternatives Wirtschaften und feministische Theorie und Praxis. Ihr neues Buch nimmt die Strömungen der Genossenschaftsbewegung in den Blick, zeichnet ihre sozialen und geschichtlichen Bezüge nach, führt uns aber auch ihre aktuellen Ausformungen und zukunftsweisenden Perspektiven vor Augen.
Zugrunde liegt die Idee von ökonomischer Selbsthilfe auf Gegenseitigkeit: Eine Gruppe von Personen vereinigt sich auf Basis gemeinschaftlichen Eigentums zu kollektivem Geschäftsbetrieb, wirtschaftsdemokratisch ausgerichtet an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder. „Weltweit sind rund 800 Millionen Menschen in Genossenschaften, auch Kooperativen genannt, organisiert. […] In Deutschland gibt es fast 8.000 Genossenschaften mit mehr als 22 Millionen Mitgliedern. Seit mehr als 160 Jahren sind Genossenschaften im Finanzwesen, in der Landwirtschaft, in Handel und Gewerbe oder im Wohnungsbau erfolgreich“ (S. 18). Im Verlauf der Geschichte wurden sie zu Trägern unterschiedlichster Motivlagen. Diese reichten von christlich-konservativen Ideen über liberal-soziale Programme, von sozialistischen Konzepten bis hin zu anarchistischen Vorstellungen.
Letzteren weist Gisela Notz eine besondere Bedeutung zu. Ihr Herz schlägt für die sozialutopische Stoßrichtung, welche sie prototypisch im libertären Experimentalsozialismus von Gustav Landauer (1870-1919) verkörpert sieht. Als Mitbegründer der Arbeiterkonsumgenossenschaft „Befreiung“ hatte dieser 1895 in Berlin versucht, seiner Vision vom allmählichen Ausstieg aus der kapitalistischen Warengesellschaft Gestalt zu geben. Ziel war der Aufbau einer Basis wirtschaftlicher Gegenmacht durch Organisation der Kundschaft und Umgehung des Zwischenhandels. In einem zweiten Schritt sollte der einbehaltene Handelsprofit in die Gründung von Produktivgenossenschaften und deren Verknüpfung mit dem Konsumverband fließen. „Ich sage nicht: Erst zerstören, dann aufbauen! Das überlasse ich denen, die in dem allgemeinen Chaos für sich eine Herrscherrolle herausfinden wollen. Vielmehr sei unsere Losung: Erst aufbauen! In der Zukunft wird es sich herausstellen, ob überhaupt noch etwas Zerstörenswertes aufrecht stehen geblieben ist“ (Landauer, zit. in: S. 75). Als anarchistisches Genossenschaftsprojekt hat die „Befreiung“ sich während der fünf Jahre ihres Bestehens in die Geschichte radikaler Sozialreform eingeschrieben.
Weitere bedeutende Anarchisten, die das Potential genossenschaftlicher Organisationen betonten, waren z.B. Peter Kropotkin (1842-1921) und Rudolf Rocker (1873-1958). In seinen 1947 veröffentlichten Überlegungen für einen freiheitlich sozialistischen Neubeginn versuchte Rocker, den anarchistischen Diskurs in entsprechende Richtung zu lenken. Im Nachkriegsdeutschland blieb die libertäre Inanspruchnahme des Genossenschaftsgedankens jedoch noch lange ein bloß theoretischer Entwurf.
Zur Quelle praktischer Inspiration wurde sie erst wieder bei den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre. In kritischer Aneignung genossenschaftlicher Traditionen entfaltete sich ein plurales Universum basisdemokratischer Initiativen, selbstverwalteter Betriebe, regionaler Unternehmensformen und neuer Netzwerke, um hierarchie- und diskriminierungsfreie, ökologisch nachhaltige Arbeits-, Austausch- und Lebensformen zu erproben. Ein kollektiver Lernprozess, der bis heute andauert, sich erfolgreich auf immer neue Geschäfts- und Kulturfelder ausdehnt und konkrete Lösungen für fehlende Freiräume und für drängende soziale Problemlagen bietet (z. B. Frauen-, Schul-, Wohn-, Energie-, Medien- oder Infrastrukturgenossenschaften).
„Eine weitere Ausbreitung von Genossenschaften mit politischem Anspruch kann zu weiterer Vergemeinschaftung von Grund und Boden und Eigentum und damit zu Interventionen führen, die zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel hinleiten. […] Die Experimente müssen weitergehen“ (S. 255 f.).
Als Bausteine für ein dynamisches Transformationsmodell jenseits von staatlichem Zwang und kapitalistischer Ausbeutung sind genossenschaftliche bzw. genossenschaftsähnliche Initiativen „soziale Kunstwerke“ und „Fenster in eine andere Welt“ (S. 203 u. 251). Gisela Notz eröffnet uns einen ebenso umfassenden wie anregenden und hoffnungsfrohen Ausblick. Für libertäre Alltagspraxis ist ihr Buch ein unentbehrliches Kompendium.
Markus Henning, in: espero, Nr. 4 (Januar 2021)